Ulrich Modersohn starb im Krieg, am 14. Juli 1943 bei Bjelgorod in Russland. Er schuf in den wenigen Jahren ein Werk, das nur als Fragment an uns überkommen und auch nur so zu werten ist, dessen malerische Spannweite aber überrascht, wenn man bedenkt, dass es im Wesentlichen nur in neun Jahren entstand, ausgehend von ersten Bildern um 1930, dem Studienbeginn an der Bremer Kunstgewerbeschule ab 1931 und dem dann folgenden Studium an der Akademie der Künste in München von 1934 bis zum Kriegsbeginn 1939.
Wie sein jüngerer Bruder Christian (1916-2009) hatte auch Ulrich als Sohn Otto Modersohns und seiner dritten Frau Louise Modersohn-Breling die künstlerische Begabung geerbt. Vor allem wurde seine Entwicklung durch das Erlebnis der Landschaft um Fischerhude und der Allgäuer Alpen, wo die Familie Modersohn seit 1930 ein Haus bei Hindelang hatte, beeinflusst.
Ulrich Modersohn, über dessen unbedingt eigenwilliges Streben und Wollen nachgelassene Schriften, Briefe und Gedichte wichtigen Aufschluss geben, hat einmal von sich selbst bekannt:
„Ja, ich bin ein Romantiker, bin es wohl noch ausschließlich, muß mich eben noch mit der Welt auseinandersetzen und Federn lassen, hoffentlich nicht alle!“ – und gewiss, das Elternhaus in Fischerhude, das malerische Dorf inmitten der weiten Wümmeniederung mit ihren winterlichen Überschwemmungen, die Malerei des Großvaters Heinrich Breling (1849-1914) und des Vaters, von der man gesagt hat, dass nur ein romantisches Empfinden die Kraft solch metaphysischer Schau besäße, bestimmten ganz die ersten Jahre seines Schaffens. Schon sehr bald fand er zu einer eigenen, persönlich geprägten Ausdrucksform, die sich gegen das starke Vorbild des Vaters behaupten konnte und in der sein ernster, lyrisch gestimmter Wesenszug zum Tragen kommt. Nach kurzem Besuch der Kunsthochschule in Bremen wo er formstarke Stillleben malt, entstehen 1933 auf dem Gailenberg bei Hindelang im Allgäu die ersten großen Landschaften unmittelbar vor der Natur.
Er schreibt in sein Tagebuch: „Die unberührte Natur ist etwas Wunderbares, Sie ist das Feinste vom Feinen. Der in ihr zu lesen vermag, findet die einzige Wahrheit, die Wahrheit des Sterbens und Lebens. Sterben ist Leben! Welche Nichtigkeit, das äußere Abbild dieses Kreislaufes festhalten zu wollen. Diese Maler sagen und sehen nichts. (…) Wir müssen unsere inneren Kräfte frei machen und brauchen uns ihrer nicht zu schämen. Sie erst machen uns zu Menschen.“
Die Stärke dieses kosmischen Naturerlebens fordert eine Malerei, die diesem elementaren, seinem Gefühl Ausdruck zu geben vermag. Als er 1934 nach München kommt, um hier sein Studium an der Akademie zu beginnen, findet er bei seinem Lehrer Prof. Schinnerer einen verständigen Förderer, und bei den alten Meistern in der Pinakothek, die er die „ewig Jungen“ nennt, das, was er für die Vertiefung und Steigerung seiner Ausdrucksmöglichkeiten sucht. Grünewald, Altdorfer, Elsheimer, die Niederländer mit ihrem Hell/Dunkel, Claude Lorrain und später auch der von ihm verehrte Hans von Marées nahmen entscheidend Einfluss auf die weitere Entwicklung.
1936 bezieht er in Fischerhude, neben der Wassermühle, ein eigenes Atelier, zeichnet viel vor der Natur, auch Bildkompositionen und es entstehen Bilder mit phantastischen Gebirgslandschaften, daneben kleinformatige Holztafeln mit Fischerhuder Motiven, Poolhütten, Pferdeweiden und Mondnächten. In den meist mit düsteren Farben gemalten Ölskizzen und Bildern wird ein Hang zum Träumerischen bis zum Phantastischen spürbar. Auch die scheinbar vertraute norddeutsche Landschaft erscheint in den Bildern Ulrich Modersohns auf beinahe schon visionäre Weise fremd und geheimnisvoll.
„Lieber eine gute, im Bau alle Kräfte verzehrende Basis, als einen hohl schwankenden, äußerlich glänzenden Turm. Ich will bemüht sein, keinen Stein auf lockeren Grund zu setzen. – Allein die frei bekennende Demut ist es, die uns ein ewiges Fortwachsen ermöglicht. – Ein wahres Wort wiegt mehr als ein Chimbarosso von Lügen! – Was ich will ist ein Ganzes, und mag es noch so gering sein, niemals ein Halbes. Lieber die kleinste Ganzheit als die größte Halbheit.“
Der Krieg unterbricht die Arbeit. Nur noch einmal, durch einen kurzen Studienurlaub 1940/41, der ihn auf die nun Nordische Kunsthochschule nach Bremen zurückführt, wird sie wieder aufgenommen. Die wenigen Bilder dieses Winters wirken freier, der Farbauftrag bewegter, visionärer. Fast alle Bilder sind Abend- oder Nachtbilder. Die Farbe tritt zurück, manchmal überwiegen Rot- und Gelbnuancen. Es gibt in ihnen kaum Konturen. Die Bilder sind vom Fleck her gedacht und zumeist auf Holztafeln gemalt. In machen dieser wie geträumt wirkenden Landschaften fühlt man sich an die visionären Landschaften von Hercules Segers erinnert, dessen Bilder und Radierungen ihm aber wohl nicht bekannt waren, zumindest findet sich in seinen Schriften kein Hinweis.
Die folgenden Jahre als Soldat in Holland und Russland geben nur noch die Möglichkeit, die wenige Freizeit zum Schreiben zu verwenden. Hiervon mit erstaunlicher Energie Gebrauch machend, hat er sich immer wieder über die weltanschaulichen und theoretischen Voraussetzungen des Kunstschaffens Rechenschaft gegeben. Und er schreibt Gedichte, inspiriert von der Lyrik Hölderlins, die er immer bei sich trägt.
Ein letzter Urlaub führt ihn noch einmal nach Fischerhude, wo er Anfang des Jahres 1943 zwei Selbstbildnisse malt. Wenige Tage vor seinem Tod verfasste er den Aufsatz „Paolo Uccello und das Problem einer neuen Vision“ . Er legte damit letztmals, angeregt durch eine Kunstpostkarte, die ihm seine Mutter geschickt hatte, ein Bekenntnis zur Kunst als Vermittlerin einer göttlichen Sendung ab.
Ulrich Modersohn hatte nur wenige Jahre Zeit, seine künstlerischen Vorstellungen zu entfalten. Sein Werk blieb unvollendet und enthält eine ganze Reihe nicht zum Ende gebrachter Ansätze. Die Visionen weiträumiger Himmelslandschaften von nahezu abstrakter Formung bleiben diejenigen Werke, die am reinsten ahnen lassen, welch einen Entwicklungsweg diese der Kunst verschworene junge Begabung genommen hätte.